in fußballland
: Diagnose: Wunder-Allergie

CHRISTOPH BIERMANN über den sich aufdrängenden Eindruck, die Bundesrepublik wäre ohne den WM-Sieg 1954 aufgelöst worden

Wer Horst Eckel mehr als einmal erlebt hat, wird sich fragen, wie der Mann das eigentlich macht. Wie schafft der Verteidiger von einst es, seit 50 Jahren mit unerbittlicher Beständigkeit und stets frisch erscheinendem Schwung über den deutschen Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 zu erzählen? Neulich etwa sprach er in Köln, im dort gastierenden Fußballglobus von André Heller, so enthusiastisch darüber, als wäre er froh, dass ihn nach fünf Jahrzehnten endlich mal einer dazu befragt. Über den „Boss“, den „Chef“ und „dem Fritz sein Wetter“ erzählte er das schon hundertfach Gehörte mit solcher Verve, dass ich es kaum fassen konnte.

Wenige Tage zuvor hatte ich im plüschigen Veranstaltungsraum eines Kölner Hotels Lachshäppchen gegessen und jene dieser Tage ausgestrahlte Version des „Wunders von Bern“ vorab angeschaut, die in der Historien-Fabrik von Guido Knopp erstellt worden ist. Nun kann kein geschichtliches Ereignis etwas dafür, in die Hände des ZDF-Historiensachwalters zu geraten, also in einen Spielfilm verwandelt und mit Musik durchgehend überkleistert zu werden. Knopps Dokumentationen verhalten sich zu Geschichtsschreibung wie Toto zu Rockmusik (falls sich noch jemand an diese schauderhafte Bombastband erinnern kann). Und so ging ich, trotz beeindruckender Recherchearbeit, wiedergefundener Farbbilder und hier und da durchaus neuer Erkenntnisse ordentlich schlechter Laune nach Hause.

Dort stolperte ich über einen Berg von Büchern zum Thema, die in den letzten Monaten publiziert wurden. Man kann sie kaum unterscheiden, denn „Wunder“, „Bern“ und „Helden“ kommt fast in jedem Titel vor, und ich hoffe stark, dass diese Abteilung meines Regals nie vollständig wird (schicken Sie mir bitte nichts mehr dazu!). Bestimmt tue ich einigen Autoren sehr unrecht, die tolle Arbeit geleistet haben, aber ich kann es einfach nicht mehr lesen. Denn anlässlich des 50. Geburtstags des Endspiels zwischen Deutschland und Ungarn bei der WM in der Schweiz habe ich inzwischen eine schwere Wunder-von-Bern-Allergie entwickelt.

Sobald ich eines der gefürchteten Stichwörter höre, entwickle ich einen so starken Fluchtimpuls, dass ich auf der Stelle bereit wäre, die Lesung eines kirgisischen Lyrikers zu besuchen oder daheim die Steuer zu erledigen. Es ist zwar verständlich und nichts dagegen einzuwenden, dass die Betreiber des Wunder-Business ihr Wunder für das tollste halten, aber inzwischen muss man annehmen, dass es sich dabei um das wichtigste Ereignis in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik gehandelt hat und sie ohne den WM-Gewinn umweglos aufgelöst worden wäre.

Meine Wunder-Allergie hat vor allem mit den Wunder-Plattitüden, mit diesem Gerede von der Geburt einer Republik im Strafraum zu tun, aber auch dem enthemmten Trümmerfrauen-Gerede über Entbehrung, Kameradschaft und allerlei soldatisches Gedöns unter Kompaniechef Herberger, das man in den letzten Monaten noch einmal verstärkt eingehämmert bekommen hat. In diesem Zusammenhang ist Horst Eckel jeden Cent wert, denn, so bescheiden und brav er auch ist, propagiert er diese Ideologie mit Schwung und zugleich stets so präzise gleich, wie man seine Hamburger bei McDonald’s serviert bekommt.

Knopps Film trug übrigens den Untertitel „Die wahre Geschichte“, aber inzwischen habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass es in all der Wunder-Mania so etwas wie Wahrheiten noch gibt. Es ist längst so resistent gegen alle Störungen, dass es selbst niemand mehr hören wollen würde, wenn die „Helden von Bern“ eine Truppe vollgedrogter Freaks gewesen wären. Und wenn es so wäre, ich würde es nicht mehr wissen wollen, denn es ist höchste Zeit für bessere Wunder.